Andreas Winter 
Auf die lange Sicht bereuen wir die Dinge, die wir nicht gemacht haben

Bund darf Städte nicht alleine lassen Umrüstung und Blaue Plakette – jetzt erst recht!
Pressemitteilung am 27. Februar 2018 

 Stuttgart ist eine von vielen Städten in Deutschland, die von StickoxidGrenzwertüberschreitungen massiv betroffen ist. Nun hat das Bundesverwaltungsgericht sich eindeutig für den Gesundheitsschutz der Bürgerinnen und Bürger, die in Stuttgart leben und arbeiten, ausgesprochen. Die Automobilindustrie und die Bundesregierung haben sich jahrelang weggeduckt und es versäumt, mit eindeutigen Schritten wie der Nachrüstung von Fahrzeugen und Regelungen wie der Blauen Plakette wirksame Maßnahmen zu ergreifen. „Das heutige Gerichtsurteil fällt somit nicht vom Himmel und ist ein Armutszeugnis für all diejenigen, die jahrelang wirksame Maßnahmen auf die lange Bank geschoben haben“, sagt Andreas Winter, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Rathaus.

Jetzt geht es darum, dass bei der Umsetzung des Gerichtsurteils die Verhältnismäßigkeit gewahrt wird. Für Handwerker etwa muss es Ausnahmeregelungen geben. Die Bundesregierung darf trotz des Urteils die Städte nicht alleine lassen. Sie muss die Voraussetzungen für die Einführung der blauen Plakette schaffen, um die bevorstehenden Fahrverbote handhabbar zu machen - sonst droht ein chaotischer Flickenteppich von lokalen Einzelregelungen.  

„Aber vor allem muss die Regierung Druck auf die Automobilindustrie ausüben, damit diese die technische Nachrüstung für die betroffenen Dieselfahrzeuge liefert und auf ihre Kosten den Kunden zur Verfügung stellt. Dass eine umfassende Nachrüstung von Dieselfahrzeugen wirksam und vertretbar ist, hat die neuste Studie des ADAC bewiesen“, so Winter. Dies verhindert zwar keine Fahrverbote, ist aber die Voraussetzung dafür, dass die betroffenen Fahrzeuge überhaupt weiter in die Innenstädte einfahren und gleichzeitig die Emissionen wirksam gesenkt werden können. Mit diesen und den vielen bereits geplanten und in die Wege geleiteten Maßnahmen zur Luftreinhaltung sind Fahrverbote eine temporäre Maßnahme, bis die Grenzwerte erreicht sind.

Die Grüne Gemeinderatsfraktion hat die Stuttgarter Luftqualität und damit den Gesundheitsschutz der Bürgerinnen und Bürger schon immer im Blick. „Wir setzen uns seit Jahren vehement für den Ausbau des ÖPNV, die Stärkung des Radverkehrs, Carsharing-Konzepte, Tempo 40 auf Steigungsstrecken oder mehr Mittel fürs Stadtgrün ein“, so die Fraktionsvorsitzende Anna Deparnay-Grunenberg. Seit Januar 2016 setzt die Stadtverwaltung Stuttgart zudem auf den Feinstaubalarm als Mittel zur Verbesserung der Luftqualität in Stuttgart. Es ist ein Verdienst der Landeshauptstadt Stuttgart und des Oberbürgermeisters Fritz Kuhn, mit dem Feinstaubalarm die Probleme beim Namen genannt zu haben und bundesweit das Thema auf die Agenda gesetzt zu haben.
 

Auswahl an Anträgen der Grünen Gemeinderatsfraktion im Stuttgarter Rathaus zum Thema Luftreinhaltung seit dem Jahr 2009


Anträge 2009
 · Luftreinhaltung: Schutz vor Feinstaub geht nur mit Taten
 · ÖPNV engagiert und vernetzt weiterentwickeln

Anträge 2011
 · Luftreinhaltung am Innenministerium
 · Gelb geht. Grün bleibt. Fortschreibung des Luftreinhalteplans

 Anträge 2012
 · Stuttgart braucht eine ÖPNV-Strategie! (Gemeinderat benötigt Entscheidungsgrundlagen für eine strategische und nachhaltige Verkehrspolitik)
 · Gesundheitsgefährdung durch Verkehr

 Anträge 2013
 · Buskonzept für die Stadt (Fernbuslinien, Touristikmesse, ZOB)

 Anträge 2014
 · Luftreinhalteplan sinnvoll ergänzen (Thema Citylogistik mit schadstoffarmen Antrieben, Lastenrädern oder einer speziellen Logistik ein Beitrag zur Luftreinhaltung gemacht werden)
 · Tempo 40 auf Steigungsstrecken geht auch schneller
 · Nahverkehr zum attraktiven Preis, bessere Luft, kürzere Staus (Jobtickets auch in den städtischen Beteiligungsunternehmen)
 · Moose und Sedum-Pflanzen können helfen, die Feinstaubbelastung zu senken
 · Nachhaltig mobile Verwaltung (Mobilität bei der Stadt ausbauen)
 · Modellprojekt „Lastenräder in der City-Logistik“

  
Anträge 2015
 · Park + Ride in Stuttgart für ÖPNV-Kunden verbessern (Missbrauch der P+RAnlagen durch Dauerparker abstellen)
 · Carsharing-Konzept für Stuttgart (Ausbau des Carsharings konzeptionell vorantreiben und mit der Einführung des Parkraummanagements in den Innenstadtbezirken verknüpfen)

 Anträge 2016
 · Alle Maßnahmen für eine saubere Luft in Stuttgart nutzen
 · Tempo 60 auf Bundesstraßen zeitnah umsetzen, Temporeduktion auf Autobahn prüfen
 · Mit einem 9-Uhr-FirmenTicket Kapazitäten in der morgendlichen Spitzenstunde schaffen und zusätzliche Fahrgäste gewinnen (Das 9-Uhr-UmweltTicket als FirmenTicket rabattieren und bezuschussen)
 · Freie Fahrt für SSB-Busse (Busspuren und Bevorrechtigung: Geringer Aufwand – großer Nutzen für den ÖV!)

 Anträge 2017
 · Bündnis für Mobilität und Luftreinhaltung: Für die Umsetzung der „Ein-ZonenStruktur“
 · Erstellung einer Machbarkeitsstudie für eine Seilbahn als Teil des ÖPNV Vaihingen 0,2 Mio.
 · Pilot-Bus-Linie “P” mit “ZERO-EMISSION” in der Innenstadt und nach Bad Cannstatt

 Haushaltsanträge 2018/2019
 · Radverkehrsförderung: Fahrradstraßen, Hauptradrouten und freigegebene Einbahnstraßen
 · Lebenswerte Innenstadt: Von der autogerechten Stadtplanung zu einem modernen, urbanen Lebens- und Begegnungsraum
 · Radverkehrsförderung beschleunigen – deutliche Erhöhung des Radetats: (Planungsmittel für Planung weitere Routen; Mehr tun für Abstellanlagen und Fahrradparkhäuser; Bau von Abstellanlagen; Mehr Lastenräder für die Stadt; Verkehrssicherheit für den Rad- und Fußverkehr erhöhen
 · ÖPNV hat Vorfahrt
 · Luftreinhaltung auch an und auf Baustellen einhalten – Mehr Personal für das Gewerbeamt und die Verkehrsüberwachung
 · Carsharing ausbauen 

Die neue Kultur der Mobilität

Artikel, geschrieben für das Grüne Stadtblatt im Herbst 2016

Im Netz kursiert seit einiger Zeit unter dem Stichwort „Clean Disruption“ die Gegenüberstellung zweier historischer Fotos: Das erste, im Jahr 1900 aufgenommen, zeigt so etwas wie einen Pferdekutschenstau auf der Fifth Avenue im Zentrum von New York City. Und mittendrin, kaum zu finden, ein Automobil. Dem wird ein 13 Jahre später aufgenommenes Foto gegenübergestellt, wieder die Fifth Avenue. Dieses Mal so etwas wie ein früher Automobilstau. Und versteckt, kaum zu finden, eine letzte Pferdekutsche. Zwischen beiden Fotos liegen gerade einmal 13 Jahre – der Siegeszug des Automobils hat sich mit rasender Geschwindigkeit vollzogen. 13 Jahre von heute aus weitergerechnet bringt uns ungefähr ins Jahr 2030, das Jahr, für das der Länderrat empfiehlt, keine Verbrennungsmotoren mehr zuzulassen.

„Disruption“ heißt Unterbrechung, und diesmal soll sie „clean“, sauber sein. Während wir mehr oder weniger die Mobilität fortgeführt haben, die auch schon die vorige Generation pflegte, spricht nicht wenig dafür, dass die heute Geborenen eine völlig andere Mobilitätskultur vorfinden werden, wenn sie ihren Führerschein machen. Wie rasant der Übergang zu einer anderen
Mobilitätskultur möglicherweise vonstatten gehen wird, darauf verweisen bereits zahlreiche heutige Entwicklungen. Zunächst einmal stößt der mit Verbrennungsmotor angetriebene Individualverkehr, der seit etwa 60, 70 Jahren dominiert, zunehmend und in mehrfacher Weise besonders in großen Städten an seine Grenzen. Schuld daran sind: Die Menge an Fahrzeugen. Nicht nur in Stuttgart erfahren die Städter*innen den enorm gestiegenen Autoverkehr zunehmend als große Belastung und Einschränkung ihrer Lebensqualität. Jahrzehntelang wurde in die autogerechte Stadt investiert. Verkehrsbeziehungen führen aus allen  Richtungen mitten in und mitten durch unsere Stadt.

Folge: Die Innenstadt ist extrem belastet. 
Der Verkehrslärm. Nach wie vor die am meisten unterschätzte Umweltgefahr, deren gesundheitliche Risiken immer deutlicher hervortreten. Die Emissionen. Die klimaschädlichen Gase und Stäube nehmen zu. Seit elf Jahren ist die Stadt nicht in der Lage, die Grenzwerte für Feinstaub einzuhalten. Und zunehmend zeichnet sich ab, dass die Stickoxide noch größere Probleme bereiten werden.

Im Jahr 2014 hatten wir in Stuttgart auf einer Strecke von 100 Kilometern Probleme mit der NO2-Belastung – beim Feinstaub „nur“ auf acht Kilometern. Mehrere Klagen sind deswegen gegen die Stadt anhängig. Ein Vergleich wurde bereits geschlossen: Werden die Grenzwerte für Feinstaub auch 2017 nicht eingehalten, muss ab 2018 die Verkehrsmenge am Neckartor um 20 Prozent reduziert sein – Fahrverbote drohen. Und im Blauen Brief der EU aus dem Jahr 2014 werden schmerzhafte sechsstellige Geldstrafen angekündigt für jeden Tag über den zulässigen 35 Tagen, an denen die Grenzwerte überschritten werden dürfen. Vor allem „Dieselgate“ hat offenbart, vor welchen Herausforderungen die Automobilindustrie steht, die Emissionsmenge so sehr zu reduzieren, dass die gesundheitlichen Belastungen nicht mehr gesundheitsgefährdend sind.

Auf der anderen Seite treiben technologische Innovationen den Wandel. Motiviert durch Energiewende und Klimaschutz ebenso wie durch die Suche nach neuen Geschäftsmodellen kommen vor allem aus dem Silicon Valley starke Impulse. Tesla treibt die Entwicklung der E-Mobilität weltweit an, und das nicht erst mit der Ankündigung seines „Model 3“, das in zwei Jahren für 35.000 Dollar zu haben sein soll – aus dem Stand 400.000 Vorbestellungen! Autobauer aus China, Japan, USA und Frankreich folgen und haben einen deutlichen Vorsprung vor den deutschen Autobauern. In Norwegen fährt bereits heute nahezu jedes vierte Fahrzeug elektrisch. Google pusht das autonome Fahren, vielerorts werden jetzt Testgelände und Pilotstrecken eingerichtet. Und Uber steht für das Sharen von Fahrzeugen und für die Organisation von Verkehrsleistungen durch die digitale Brille. Wissenschaftler*innen berichten schon von dem Phänomen, dass das konkrete Leihfahrzeug, der Reiz eines großen BMW zum Beispiel, an Bedeutung verliert, dafür aber der Möglichkeitsraum, der durch Mobilitäts-Apps erschlossen wird, eine enorme Faszination ausübt: die Möglichkeit, mehr oder weniger aus dem Stand multimodal das für meinen Zweck in der konkreten Situation passende und schnellste Verkehrsmittel wählen zu können. Dass auch in der baden-württembergischen Landeshauptstadt junge Leute immer weniger Wert auf das eigene Fahrzeug legen, das weisen die Zahlen des Statistischen Amtes der Stadt Stuttgart nach: Zwischen 2005 und 2013 sank die Nutzung des Autos von 34 auf 18 Prozent und hat sich somit innerhalb von nur acht Jahren fast halbiert. Ziemlich offensichtlich werden wir künftig elektrisch fahren, mitunter im autonom fahrenden Fahrzeug, das nicht immer ein Auto sein muss und das uns nur noch in seltenen Fällen selbst gehört.

Gut möglich, dass wir um die Jahrhundertmitte deutlich weniger Belastungen aus dem Verkehr in unserer Stadt haben. Ziemlich sicher brauchen wir weniger Parkplätze. Schade bloß, dass uns diese Aussicht derzeit überhaupt nichts nützt. Jedes dritte Fahrzeug, das Daimler produziert, und jedes fünfte Fahrzeug, das in Deutschland verkauft wird, ist ein SUV. Trotz „Dieselgate“ haben aktuell 45 Prozent der neu zugelassenen Fahrzeuge hier einen Dieselmotor. Zugleich steigt ihre PS-Zahl, deswegen auch ihre Emissionen. Und schon wurde der erste Feinstaubalarm dieses Winters ausgerufen. Die Stadt wird schon heute tätig, um das Recht auf saubere Luft zu sichern! Daher werden wir weiterhin viele kleine und große Maßnahmen weiter pflegen und neue auf den Weg bringen müssen. Die Temporeduktion auf Steigungsstrecken sind wichtig, strengere Tempolimits auf Bundesstraßen und auf den Autobahnen um Stuttgart würden sowohl zur Lärmminderung als auch zur Verringerung der Luftbelastung einen Beitrag leisten. Außerdem: Die Parkraumbewirtschaftung weiter schnell in der Innenstadt und in Bad Cannstatt umsetzen. Die Dieselfahrzeuge der Stadt ausmustern und auf Elektroantriebe gehen, möglichst auch bei den Bussen der SSB.

Und: Grundlegend erforderlich ist 
der Ausbau der öffentlichen Verkehrsangebote. Der ÖPNV in Stuttgart weist die höchsten Steigerungsraten in Deutschland auf. Das ist schon mal was! Der VVS strebt für die S-Bahnen einen durchgängigen 15-Minuten-Takt an. Geprüft wird, welche Kapazitätserweiterungen möglich sind und wie die Panoramabahn eingebunden werden kann. Weitere Regionalhalte in Feuerbach und Bad Cannstatt werden diskutiert. Den Taxifahrern werden attraktive Angebote für einen Umstieg auf Elektrofahrzeuge gemacht. Mit den City-Logistikern werden Varianten besprochen, wie die Belieferung in der City emissionsfrei erfolgen kann. Es müssen ja nicht gerade Drohnen sein oder kleine Roboter, die sich selbstständig auf den Weg durch die Stadt machen, um ihre Pakete auszuliefern. Ein guter Anfang ist schon mal, die Transporter elektrisch fahren zu lassen. Wie es die Post vormacht, die man für ihren unternehmerischen Mut nur beglückwünschen kann, ihre E-Transporter eben selbst zu produzieren, wenn sich kein Hersteller – auch nicht der große hiesige – für Elektromobile begeistern lässt.

Eine Maßnahme, die große Effekte verspricht, ist die Blaue Plakette, die aber derzeit von Bundesverkehrsminister und Autolobbyist Dobrindt blockiert wird. Wir hoffen mit unserer Landesregierung, dass die Länder dieses Hindernis überwinden können und die Plakette doch kommt. Doch ohne die Autoindustrie wird es nichts werden. Wir hoffen und erwarten, dass sich auch die Stuttgarter Automobilhersteller schnell emissionsfreien Antrieben zuwenden. Nur eine emissionsfreie und nachhaltige Mobilität hat Zukunft. Leider sind „unsere“ Hersteller hier nicht vorne dabei. Während das Interesse der Menschen wie auch der Medien auf die Entwicklung der E-Mobilität gerichtet ist, steckt Daimler mehrere Milliarden Euro in die Optimierung des Diesels und eine halbe Milliarde Euro in die Entwicklung eines schweren Pickups. Wenn das mal nicht in die Sackgasse führt! Ohne Verkehrsverlagerung, ohne Änderung des Modal Splits – weniger fossiler Individualverkehr, mehr öffentlicher Verkehr – und ohne Verkehrsvermeidung wird es nicht gehen.

Das Jobticket bietet hier einen Anreiz zum Umstieg. Großer Erfolg, dass sowohl Porsche als auch Daimler dieses Ticket ihren Beschäftigten anbieten. Das Fahrradfahren in der Stadt muss noch attraktiver werden. Schön, dass wir jetzt mit der Tübinger Straße die zweite Fahrradstraße haben, aber: In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Radfahrer*innen verdoppelt! Und fast jede*r Zweite davon nutzt das Rad für die Fahrt zur Arbeit! Das Pedelec beflügelt diese Entwicklung noch. Alltagsradler brauchen andere Möglichkeiten als Freizeitradler. Kopenhagen zeigt mit dem Netz an Radschnellwegen, was möglich ist. In den kommenden Monaten wird sich zeigen, ob sich Fahrverbote vermeiden lassen. Nur wenn sich die motorisierten Verkehrsteilnehmer*innen verantwortungsvoll verhalten und vor allem an Tagen mit drohendem Feinstaubalarm den Pkw stehen lassen, lassen sich die Grenzwerte einhalten. Nur dann kommen wir um verkehrsbeschränkende Maßnahmen ab 2018 herum.

Es braucht viele Schritte und gute Ideen und viele gute Vorschläge. Hier sind auch Sie gefragt, teilen Sie uns Ihre mit! Handeln wir verantwortungsvoll. 



 
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